AKTUELLES 2024


DER 7. OKTOBER UND DIE FOLGEN IN ISRAEL UND DEUTSCHLAND

Gespräch mit Ofer Waldman, Moderation Katrin Reimer-Gordinskaya 

18. Januar 2024 / Online & Kleine Markthalle, Hallstraße 49, Stendal

Ofer Waldman / Foto: Tal Alon

Die Veranstaltung »Der 7. Oktober und die Folgen in Israel und Deutschland« lädt in Stendal zu einem Informationsabend in die Kleine Markthalle ein. Das Gespräch mit dem deutsch-israelischen Musiker und Autor Dr. Ofer Waldman, moderiert von Prof. Katrin Reimer-Gordinskaya, ist der Auftakt der Projektwoche »Denken ohne Geländer«.

 

Das Massaker der Hamas und die Entführung von Kindern sowie Frauen und Männer bis ins hohe Alter haben die israelische Gesellschaft zutiefst erschüttert. Während des darauffolgenden Kriegs in Gaza überlagerten die Bilder der Zerstörung und des Leides der palästinensischen Zivilbevölkerung die Folgen des Massakers und des anhaltenden Beschusses durch Hamas und Hisbollah in Israel. Herz und Verstand schienen vielfach vor dem komplexen Grauen zu versagen. Die Erschütterungen über das Geschehen erreicht auch die Straßen Europas und Nordamerikas, wo ein rasanter Anstieg antisemitischer Gewalt und eine migrationskritische Gegenreaktion den öffentlichen Diskurs dominieren. Im Gespräch wird versucht, mit Bedacht über das Geschehen und seine Bedeutung für Menschen in Israel und Deutschland zu reflektieren. 

 

Ofer Waldman kam als Hornist 1999 mit dem West-Eastern Divan Orchester nach Deutschland. Später spielte er im Rundfunk Sinfonie Orchester Berlin, der Deutschen Oper Berlin, dem Bayerischen Staatstheater Nürnberg, der New Israel Opera und dem Israel Philharmonic Orchestra. Nach Studien an der Hebräischen Universität Jerusalem und an der Freien Universität Berlin promovierte er in den Fächern Geschichtswissenschaft und Germanistik. Heute reflektiert er als Journalist und Autor aus deutscher und israelischer Sicht zeitgenössische Herausforderungen demokratischer Gesellschaften.

 

Das Gespräch mit Ofer Waldman wird Prof. Katrin Reimer-Gordinskaya von der Hochschule Magdeburg-Stendal führen. Sie verweist auf Irritationen der in Israel und in Deutschland lebenden Juden und Jüdinnen. Viele seien in ihren Familien nicht nur unmittelbar betroffen von den Massakern und Verschleppungen der Hamas, sondern auch von fehlender Empathie angesichts der Bilder des Krieges in Gaza. Auch hielt sich die Solidarität mit Juden und Jüdinnen beim Anstieg der antisemitischen Vorfälle in Deutschland in Grenzen. »Darüber wollen wir ins Gespräch kommen, aber auch über den aufgetretenen Israel bezogenen Antisemitismus, der in unterschiedlichen politischen und sozialen Milieus vorhanden ist«, sagt Katrin Reimer-Gordinskaya. Zu diskutieren sei auch die eindimensionale migrantische Zuschreibung von Antisemitismus, wie die jüngste Entscheidung in Sachsen-Anhalt zeige. Hier ist die Einbürgerung seit kurzem an das Bekenntnis zum Existenzrecht des Staates Israel geknüpft.

 

Die Veranstaltung der Hochschule Magdeburg-Stendal und der Freiwilligen- Agentur Altmark findet am 18. Januar um 18 Uhr statt. Der Eintritt in die Kleine Markthalle in der Hallstraße 49 ist frei. Anmeldungen für eine hybride Online-Teilnahme sind bis zum 17.1. unter idk@h2.de möglich. 

»DAS HAT’S BEI UNS NICHT GEGEBEN!«

Ausstellung über Antisemitismus in der DDR, Eröffnung mit Anetta Kahane

19. Januar 2024 / Stadtbibliothek Stendal

Anetta Kahane kam nach ihrer Einführung mit etlichen Ausstellungsbesucherinnen ins Gespräch. (am)

Anetta Kahane eröffnete am 19. Januar in Stendals Stadtbibliothek eine Ausstellung über Antisemitismus in der DDR. Die Gründerin der Amadeu Antonio Stiftung sprach über das Projekt, berührte mit persönlichen Einblicken als Zeitzeugin und forderte zur kritischen Auseinandersetzung auf. Im Rahmen der Aktionswoche »Denken ohne Geländer« steht die Ausstellung dafür bis zum 9. Februar der Öffentlichkeit zur Verfügung. 

 

Dieses Verschwinden hat mich krank gemacht

 

»Das hat’s bei uns nicht gegeben!« – der Titel ist treffend gewählt. Fotos, Dokumente und Zeitzeugenaussagen an Audio- und Videostationen belegen: Das gab es eben doch. Die Ausstellung entstand in der ersten Dekade der 2000er Jahre mit einer ungewöhnlichen Herangehensweise: 76 Jugendliche forschten in acht Orten der „Neuen Bundesländer“ über Antisemitismus in der DDR, unterstützt von der Amadeu Antonio Stiftung, von Historiker*innen und Pädagog*innen. Die professionell aufgearbeiteten Ergebnisse reisen seit 2007 als Wanderausstellung durch Deutschland. Wurde sie anfangs – im Sinne ihres Titels – von heftigen Kontroversen begleitet, sieht Anetta Kahane heute überwiegend eine neue Generation in der Ausstellung, die nicht mehr so gefangen sei „in der narzisstischen Kränkung, dass es die DDR nicht mehr gibt“, sagt sie in Stendal.

 

Suche nach hebräischen Schriftzeichen

 

Anetta Kahane, Jahrgang 1954, wächst als jüdisches Kind in Ost-Berlin auf. Ihr Vater Max ist Journalist, ihre Mutter Doris Künstlerin. Beide Eltern waren im Widerstandskampf in Spanien und Frankreich und kehrten zurück ins Land der Täter, um den Sozialismus mit aufzubauen. Staatlich verankerten Antisemitismus erlebt die Heranwachsende vor allem im Verschweigen. Von jüdischem Leben und Sterben sei nicht mehr die Rede gewesen (»im KZ waren nur Antifaschisten oder Menschen aus Polen, aus Holland oder aus Ungarn«), über jüdische Identität wurde nicht gesprochen und das Judentum sei nur als Religion ohne kulturelle und ethnische Dimension betrachtet worden. Religion aber galt in der DDR als reaktionär. »Dieses Nicht-Sehen, dieses Verschwinden, das hat mich krank gemacht als Jugendliche«, sagt Anetta Kahane und erzählt, wie sie im Berliner »Scheunenviertel«, wo die osteuropäischen traditionellen Juden gewohnt hatten, nachts unter abblätterndem Putz nach hebräischen Schriftzeichen suchte.

 

Nationalsozialistisches Erbe nicht aufgearbeitet

 

»Judenverfolgung in den 1950er-Jahren, Restitution verweigert, Entschädigungen verweigert, jüdische Identität weggewischt, Antizionismus hochgezogen«, so umreißt Anetta Kahane den Antisemitismus im Staatswesen der DDR. All diese Facetten greift die Ausstellung in der Stendaler Stadtbibliothek auf, befasst sich darüber hinaus mit der ritualisierten Gedenkkultur, dem Mythos der Entnazifizierung in der DDR und dem Rechtsextremismus im sozialistischen Staat. Dargestellt werden z. B. Einzelschicksale wie das des Holocaust-Überlebenden Julius Meyer, der sich als SED-Volkskammerabgeordneter für die Entschädigung jüdischer Überlebender einsetzte und in den 1950er-Jahren in der DDR als »jüdischer Nationalist« und »westlicher Agent« politisch verfolgt wurde. Eine Chronik listet antisemitische Vorfälle in der DDR auf: Jüdische Friedhöfe werden geschändet, antisemitische und faschistische Symbole und Parolen verwendet, Jüdinnen und Juden beschimpft und bedroht.

»Auch die DDR war eine postnationalsozialistische Gesellschaft«, sagt Anetta Kahane. Der Beschluss, fortan ein sozialistischer Staat sein zu wollen, habe nichts an den Einstellungen und Erlebnissen der Menschen geändert. »Alles, was liegenbleibt, womit man sich nicht selbstkritisch auseinandersetzt, bietet Nahrung für Verführer«, ist sie überzeugt. Von der ausgebliebenen Aufarbeitung des nationalsozialistischen Erbes in der DDR profitiere heute die AfD.

 

Kontinuitätslinien bis in die Gegenwart

 

Prof. Katrin Reimer-Gordinskaya von der Hochschule Magdeburg-Stendal moderierte die Ausstellungseröffnung im Rahmen der Aktionswoche »Denken ohne Geländer«. Ein Forschungsprojekt am von ihr mitgegründeten Institut für demokratische Kultur beschäftigt sich mit jüdischem Leben in der DDR, insbesondere in der Wendezeit. »Wenn wir die Zeit von 1945 bis 1989 versinken lassen, dann verstehen wir nicht, wo die Kontinuitätslinien sind«, so die Professorin.  Anetta Kahane sieht die Fortsetzung dieser Linien auch in den Reaktionen auf den Großangriff der Terrororganisation Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023. Die Art der Diskussion erinnere sie daran, wie in der DDR diskutiert und Antizionismus gepredigt wurde nach der Formel: »Der Kapitalismus ist an allem schuld und der Inbegriff des Kapitalismus ist der Jude.« 

Die unisono hervorbrechenden Vorurteile machten ihr als Jüdin in Deutschland Angst. »Ich habe schon sehr viele Anfeindungen erlebt, auch einen Mordversuch. Aber das hat bei mir emotional etwas gemacht, vor allem, weil es nicht nur die Rechtsextremen sind, die so ticken, sondern auch die Leute aus dem eher linken und weltoffenen Spektrum«, offenbart Anetta Kahane in Stendal. An ihrem engagierten Eintreten gegen Menschenfeindlichkeit – so konnten die Gäste der Ausstellungseröffnung erleben – hat das nichts geändert. Dass sie von Sicherheitspersonal zu ihrem Schutz begleitet werden musste, zeigt den aktuellen Stand der Dinge in Deutschland.

 

Die Ausstellung »Das hat‘s bei uns nicht gegeben! – Antisemitismus in der DDR« kann bis zum 9. Februar montags, dienstags und donnerstags von 15-18 Uhr, freitags von 13-15 Uhr und samstags von 9-12 Uhr in der Stendaler Stadtbibliothek besichtigt werden. Schulklassen ab Jahrgangsstufe 9 melden sich für Vormittagsbesuche bitte beim Institut für demokratische Kultur der Hochschule Magdeburg-Stendal unter idk@h2.de. Der Eintritt ist frei.

 

Das Buch zur Ausstellung gibt es hier:

»Das hat’s bei uns nicht gegeben« - Antisemitismus in der DDR - Amadeu Antonio Stiftung (amadeu-antonio-stiftung.de)

 

Bericht: Edda Gehrmann

Für das Leben ihres Sohnes: Eine deutsche Mutter kämpft gegen Hitler

»Der Prozess des Hans Litten«, Theaterproduktion von Arbeit und Leben Sachsen-Anhalt 
19. Januar 2024 / Theater der Altmark

Das freie Magdeburger Theater Pauken & Poeten gastiert mit dem Stück an verschiedenen Orten in Sachsen-Anhalt. Marcus Kaloff inszenierte das Theaterstück »Der Prozess des Hans Litten«.

Foto: Pauken & Poeten Theater Magdeburg

»Der Prozess des Hans Litten« kommt am 19. Januar um 19.30 Uhr als Gastspiel ins Theater der Altmark. Im Rahmen von »Denken ohne Geländer« bringt das Pauken & Poeten Theater Magdeburg das Stück des britischen Autors und Dramatikers Mark Hayhurst auf die Bühne des Kleinen Hauses. Hans Litten war ein aufrechter junger Anwalt, der aus Halle (Saale) stammte und bereits vor Hitlers Machtergreifung mit rechtlichen Mitteln gegen den nationalsozialistischen Terror kämpfte. Er starb 1938 im KZ Dachau mit nur 34 Jahren.

 

Millionen Zuschauer begegnen in der deutschen Erfolgsserie »Babylon Berlin« über das Berlin der 1920-er und 1930er-Jahre dem Anwalt Hans Litten. Dass die historische Filmgestalt fiktive Züge trägt und ihren Onkel nicht detailgenau wiedergibt, stört seine Nichte Patricia Litten nicht. »Dank dieser Serie lernt endlich ein großes Publikum Hans Litten kennen. Und wer mehr über ihn wissen will, geht ins Internet, findet meine Homepage, liest vielleicht das Buch meiner Großmutter«, sagt sie im Oktober 2023 in einem Interview mit den Nürnberger Nachrichten. 

 

Auf diesem Buch beruht das Theaterstück, das am 19. Januar im Kleinen Haus des Theaters der Altmark gezeigt wird. Irmgard Litten schrieb »Eine deutsche Mutter kämpft gegen Hitler« im britischen Exil. Seit der Verhaftung ihres Sohnes Hans in der Nacht des Reichstagsbrandes vom 27. auf den 28. Februar 1933 kämpfte sie um sein Leben. Mutig drang sie bis in die Spitzen des NS-Regimes vor, wandte sich an kulturelle Größen wie Wilhelm Furtwängler und Emmy Sonnemann, die spätere Ehefrau von Hermann Göring, organisierte Beistand und internationale Solidarität. Vergebens. 

 

Der junge Rechtsanwalt und Strafverteidiger Hans Litten, der als Anwalt der »Kleinen Leute« bekannt wurde, hatte sich Hitler zum Erzfeind gemacht. Nicht nur, dass er in politischen Prozessen Kommunisten verteidigte oder von Nationalsozialisten Geschädigte vertrat – Hans Litten wagte es 1931 auch, den Vorsitzenden der NSDAP in einem Prozess als Zeugen vorzuladen, in dem ein besonders brutaler Überfall von SA-Männern auf die Versammlung eines Arbeiterwandervereins verhandelt wurde. Mehrere Stunden lang verhörte er Hitler über die gewaltverherrlichenden Hetzschriften der NSDAP.

 

Im Vorwort von Irmgard Littens Buch erinnert sich sein Rechtsanwaltskollege Rudolf Olden, der nach dem Reichstagsbrand nach England fliehen konnte: »Litten hatte nicht wenige Zitate aus der nationalsozialistischen Literatur zur Hand, - ›die Gegner zu Brei zerstampfen‹, ,von der Revolution des Worts zur Revolution der Tat übergehen‘ und anderes mehr, - er vernahm den prominenten Zeugen mit der ihm eigenen beharrlichen Ruhe, machte ihn ein paarmal wütend und ließ ihn zwei Stunden lang beträchtlich schwitzen. Ob damals irgendjemand im Saal eine Ahnung hatte, daß er sich selbst das Urteil qualvollen Todes gesprochen hatte? Ich glaube, keiner von uns vermochte so weit zu blicken.«

 

Viereinhalb Jahre lang durchleidet Hans Litten ab 1933 die Misshandlungen der Nationalsozialisten in verschiedenen Zuchthäusern und Konzentrationslagern – in der Festungshaftanstalt Berlin-Spandau, im KZ Sonnenburg, im Zuchthaus Brandenburg, im »Moorlager« Esterwegen, in den KZ Lichtenburg, Buchenwald und Dachau. Körperlich und seelisch zerstört, nimmt er sich in Dachau am 5. Februar 1938 das Leben. 

 

Das Theaterstück von Mark Hayhurst, uraufgeführt 2014 unter dem Titel »Taken at Midnight«, beginnt mit der Verhaftung Hans Littens und stellt den aufopferungsvollen Kampf der Mutter um seine Freilassung in den Vordergrund. Nach der Vorstellung gibt es ein Gespräch mit Cornelia Habisch von der Landeszentrale für politische Bildung Sachsen-Anhalt, Regisseur Marcus Kaloff und den Schauspieler*innen. Der Eintritt ist frei. Eine telefonische Reservierung wird unter 03931 – 63 57 77 empfohlen.

 

Ausführliche Informationen über Hans Litten und seine Familie:

Hans Litten | Eine Mutter kämpft - Hans Litten (hans-litten.de)

Bittkau erinnert an Dr. Ernst Lewy

Filmvorführung und Gespräch über jüdischen Arzt

20. Januar 2024 / Dorfgemeinschaftshaus Bittkau

Bis die Nationalsozialisten an die Macht kommen, ist Dr. Ernst Lewy für die Menschen in Bittkau und Umgebung einfach ihr Hausarzt, der sich mit Herz und Seele um ihre Gesundheit kümmert. Plötzlich ist er der Jude Lewy. Ernst Lewys jüdische Abstammung war seinen Patientinnen und Patienten bis dahin weder bekannt, noch hatte es jemanden interessiert. In einem bewegenden Film, der am Sonnabend, 20. Januar, um 16 Uhr im Dorfgemeinschaftshaus Bittkau gezeigt wird, erinnern sich Zeitzeuginnen und Zeitzeugen aus Bittkau, Jerchel und Grieben an den Arzt, der dort von 1924 bis 1939 praktizierte. 

 

Die Dokumentation entstand in Zusammenarbeit des Heimatvereins und des Pfarrbereiches Cobbel-Grieben um das Jahr 2000, initiiert von Pfarrer Peter Gümbel. Die meisten seiner Gesprächspartner leben nicht mehr. Mit ihren aufgezeichneten Interviews tragen sie jedoch weiterhin dazu bei, dass Dr. Lewy nicht vergessen wird. Sie erzählen von einem guten, freundlichen Arzt, der den Menschen helfen wollte, immer für sie da war und sich nicht anmerken ließ, was er durchmachte, als die Nazis Jüdinnen und Juden zunehmend ihre Rechte absprachen. »Nachher gingen auch keine Leute mehr hin zu Dr. Lewy, die hatten alle Angst«, sagt eine Frau im Film. Ein Zeitzeuge erzählt – noch im hohen Alter tief bewegt – wie die Nazis einen Aufmarsch durchs Dorf befehlen. Vor dem Haus von Dr. Lewy soll ein Hetzlied gegen Juden gesungen werden. Da habe er zum Scharführer gesagt: »Wir können doch wie befohlen durch Bittkau marschieren und ein normales Lied singen und das Judenlied singen wir woanders«. 

 

Im Winter 1939 gelingt dem Arzt mit seinem älteren Sohn die Flucht nach Chicago. Er soll eines der letzten Schiffe genommen haben, mit denen die Überfahrt noch möglich war. Seine nicht-jüdische Frau bleibt mit dem jüngeren Sohn in Bittkau. Sie folgt ihrem Mann kurz nach Kriegsende in die USA. All das ist aus den Gesprächen in der Dokumentation zu erfahren. 

 

»Der Film über Dr. Lewy ist in der Kirchengemeinde und vor allem bei älteren Menschen bekannt, aber nicht bei jüngeren Leuten. Viele wissen nicht, dass es in Bittkau einen jüdischen Arzt gab«, sagt Ortsbürgermeister Alexander Wittwer. Das soll sich in diesem Jahr – voraussichtlich im September – auch durch einen Stolperstein für Dr. Lewy ändern. Den Beschluss hat der Ortschaftsrat, angestoßen vom Heimatverein, im vergangenen Jahr gefasst und den Stein beantragt. 

 

Zur Veranstaltung am 20. Januar ist es gelungen, Ernst Lewys Neffe Michael Frisk zu gewinnen, um nach der Vorführung mit ihm ins Gespräch zu kommen. Er lebt in Niederkirchen in der Nähe von Mannheim. Der Nachmittag zur jüdischen Regionalgeschichte in Bittkau ist Teil der Projektwoche »Denken ohne Geländer«. Der Eintritt ist frei.

Ich wand‘re durch Theresienstadt ...

Musikalische Lesung mit Opus45, Schauspieler Roman Knižka und Sängerin Pia Liebhäuser

 21. Januar 2024 / Katharinenkirche Stendal

Roman Knižka rezitierte und Pia Liebhäuser sang mit dem Bläserquintett Opus45, eingeleitet von Cornelia Habisch (eg, am)

Bewegend. Dieses Wort fiel häufig am 21. Januar 2024 in der Stendaler Katharinenkirche. Mit einer musikalischen Lesung erinnerten TV-Star Roman Knižka, das Bläserquintett Opus 45 und Mezzosopranistin Pia Liebhäuser an Menschen aus dem Ghetto Theresienstadt. Ein Abend im Rahmen der Reihe »Denken ohne Geländer«, der im Gedächtnis bleibt.

 

23. September 1943: Premiere der Kinderoper »Brundibár« von Hans Krása in Theresienstadt. Eine Katze, ein Vogel und ein Hund verkörpern das Gute. Mit Hilfe einer Gruppe Kinder vertreiben sie den fiesen Drehorgelmann Brundibár. Der damals 14-Jährige Rudolf Laub, einer der Mitwirkenden, hat seine Erinnerungen an die Premiere aufgeschrieben. Roman Knižka leiht ihm in der Katharinenkirche seine Stimme, schildert mit jugendlicher Begeisterung das Lampenfieber, den donnernden Applaus, das Glück des Gelingens. Sieg über Brundibár! Die Gefangenen im Lager sahen in dieser Figur Hitler verkörpert. »Wir haben gewonnen, weil wir uns nicht unterkriegen ließen, weil wir uns nicht gefürchtet haben!« Der Schauspieler schleudert die Sätze des Jungen freudig heraus, springt hoch in die Luft. Nach einer kurzen Pause verschwindet das Lächeln, die Augen leuchten nicht mehr. Knižka senkt die Stimme: »Rudolf Laub wurde knapp drei Monate nach der Premiere ins Vernichtungslager nach Auschwitz deportiert, auch der Darsteller des Brundibár sowie die meisten der Kinder und Jugendlichen, die an der Oper mitgewirkt hatten.«

 

Kunst und Kultur gegen Todesangst

 

Von 1941 bis 1945 wurde das von der SS errichtete Lager Theresienstadt im böhmischen Terezín zum Gefängnis für 150.000 deutsche, österreichische, tschechische, später auch holländische und dänische Jüdinnen und Juden. Jeder vierte von ihnen starb dort. Von den fast 15.000 Kindern, die nach Theresienstadt kamen, überlebten nur 132. Für Unzählige war es die letzte Station vor der Ermordung in Vernichtungslagern wie Auschwitz-Birkenau. Cornelia Habisch von der Landeszentrale für politische Bildung Sachsen-Anhalt, die den Abend veranstaltete, listete einleitend die bedrückenden Fakten auf. Katastrophale Lebensbedingungen, ständige Todesangst – und dennoch: Kunst und Kultur. Vorträge, Theater- und Opernaufführungen, Kabarett und Konzerte. Für die jüdischen Inhaftierten ist es eine Frage der Selbstbehauptung und Würde. Und ein Gebot der Fürsorge, um die Kinder nicht verzweifeln und die Hoffnung verlieren zu lassen. »Die Brundibár-Vorstellungen bedeuteten für uns einen süßen kleinen Triumph über den Wahnsinn. Wenn die Musik spielte und die Kinderstimmen erklangen, übertönten sie das Knurren der Mägen«, zitiert Roman Knižka aus einem Zeitzeugenbericht. »Brundibár« wird im Ghetto 50 Mal aufgeführt. Kinder, die neu im Lager ankommen, erhalten umgehend ihre Karte – niemand weiß, wann sie »weitermüssen«. Aus dem gleichen Grund gibt es mehrere Besetzungen für die Rollen.

 

Baden bedeutet den Tod

 

Dass Theresienstadt trotz dieser Fluchten ein Ort des Grauens war, daran lassen die Künstler in ihrem Programm keinen Zweifel aufkommen. Erschauern lässt u. a. der Bericht über 1260 Kinder aus Białystok, die nach ihrer Ankunft in Panik ausbrachen, als sie ins Bad gehen sollten. Ihre Eltern, deren Ermordung viele von ihnen mit ansehen mussten, hatten sie gewarnt: Baden bedeutet den Tod, aus den Brausen käme kein Wasser sondern  … Roman Knižka muss das Wort nicht aussprechen. »Um Nichts in der Welt wollten diese Kinder unter die Dusche«, erinnert sich ein mitgefangener Jugendlicher und hält ihre Ängste für Übertreibungen kindlicher Phantasie.

 

Sechs Wochen später werden die Kinder aus Białystok nach Auschwitz deportiert und dort sofort nach ihrer Ankunft  … Wieder Schweigen, wieder füllt jeder im Publikum die Leerstelle selbst im Stillen.

 

In den Gedichten und Texten von Kindern und Jugendlichen, die in Theresienstadt inhaftiert waren, und in der Lyrik der jüdischen Autorin Ilse Weber, die Roman Knižka rezitiert, spiegeln sich Hoffnung und Stolz, Angst und Verzweiflung, Ratlosigkeit, Trauer, Sehnsucht nach Freiheit und Menschlichkeit inmitten der denkbar unmenschlichsten Verhältnisse. Das ganze Ensemble stellt sich in den Dienst dieser Jüdinnen und Juden, die Zeugnisse ihres Lebens im Ghetto Theresienstadt hinterlassen haben. Roman Knižka berührt mit sensibel ausbalancierter Schauspielkunst und Feingefühl für den jeweils angemessenen Erzählton. Das Bläserquintett Opus 45 und Mezzosopranistin Pia Liebhäuser vom Opernhaus Stuttgart (ihre Mitwirkung war eine Premiere) entreißen virtuos Werke der in Theresienstadt inhaftierten und von den Nationalsozialisten ermordeten Komponisten Pavel Haas, Hans Krása, Viktor Ullmann, Gideon Klein und Carlo Sigmund Taube dem Vergessen. Neben Stücken von Kurt Weill und Maurice Ravel erklingt auch Musik des tschechischen Komponisten Bedřich Smetana, dessen Oper »Die verkaufte Braut« von den Lagerinsassen 35 Mal aufgeführt wurde –  unter Leitung des Dirigenten Raphael Schächter »mit einem alten halb zerbrochenen Klavier und einem halb zerbrochenen Akkordeon.« Geprobt wurde in einem kalten Kellerraum, bis an die Ohren verpackt.

 

Gesicht zeigen bei der Gedenkveranstaltung am 27. Januar

 

Eine Fülle solcher Geschichten erzählt die musikalische Lesung »Ich wand’re durch Theresienstadt«. Die titelgebende Zeile entstammt einem Gedicht der jüdischen Schriftstellerin Ilse Weber, die sich im Lager als Krankenschwester um die Kinder kümmerte und ihre Schützlinge bis in die Gaskammer nach Auschwitz begleitete. Sie wirken nach, die Worte und Schicksale dieser Menschen und rütteln eindringlich auf, die um sich greifende Menschenfeindlichkeit in Deutschland nicht hinzunehmen. Die offizielle Gedenkveranstaltung in der Hansestadt Stendal zum Tag der Befreiung von Auschwitz am Sonnabend, 27. Januar, um 10.00 Uhr in der Katharinenkirche ist »ein guter Anlass, noch einmal gemeinsam Gesicht zu zeigen«, gab Cornelia Habisch von der Landeszentrale für politische Bildung Sachsen-Anhalt dem Publikum mit auf den Weg. Zur Veranstaltung des Maximilian-Kolbe-Werkes, der Landeszentrale für politische Bildung Sachsen-Anhalt und der Hansestadt Stendal wird die Zeitzeugin Henriette Kretz erwartet. Sie wurde 1934 als Jüdin in Polen geboren, überlebte das Ghetto Sambor bei Lemberg und versteckte sich bis Kriegsende an verschiedenen Orten vor dem NS-Terror.

 

Bericht: Edda Gehrmann

ÜBER DAS LEBEN

Theaterstück und Nachgespräch zum Thema Jugendwiderstand in der NS-Zeit

22. Januar 2024 / Gemeinschaftsschule Tangerhütte 

22. Januar 2024 / Grete-Minde-Saal Tangermünde

Das Ensemble vom theastertpiel Witten arbeitet mit Schauspiel, Musik und Tanz.

Fotos: theaterspiel Witten

Bei Hitlers Machtübernahme 1933 ist Anni 9 Jahre. Sie, ihre Freunde und ihre Eltern geraten mehr und mehr in den Strudel der historischen Ereignisse. Einige von ihnen werden Anhänger der NS-Diktatur und marschieren mit, andere versuchen sich der alles beherrschenden Ideologie zu verweigern oder dem Terror zu entfliehen. Anni schließt sich einer Gruppe von Jugendlichen an, die auf den Drill der Hitlerjugend keine Lust hat. Anfangs noch in Auflehnung gegen die Gleichmacherei, tritt die Gruppe mehr und mehr in den aktiven Widerstand. Als Anni jedoch gefangen genommen wird, entwickelt sich ihr Kampf um ein gerechtes Leben zu einem Kampf ums Überleben. 

 

Auf Grundlage von Zeitzeugenberichten erzählt »ÜBERdasLEBEN oder meine Geburtstage mit dem Führer« vom Unrechtssystem des NS-Staates. Gegen Gleichschaltung, Unfreiheit und Ungerechtigkeit gab es Widerstand in unterschiedlichsten Formen. Mit Live-Musik, Schauspiel und Tanz taucht das Stück ein in diese bewegende Zeit, erzählt von Schicksalen, Freundschaft und Feindschaft und verdeutlicht, dass es nötig ist, jeden Tag für Demokratie und Menschlichkeit einzutreten auch heute noch. 

 

Die Wetterauer Zeitung vom 30.1.2019 schreibt: »Die einfühlsame Livemusik [...] am Saxofon, tänzerische Untermalung [...], sowie die schauspielerische Kraft [...] gaben dem Stück eine besondere Dynamik und ließen die Dramatik von Schicksalen, Freundschaften und Feindschaften offenbar werden.«

 

Das »theaterspiel« ist ein mobiles Theater mit Sitz in Witten, NRW. Mit mehr als 10 Produktionen tourt »theaterspiel« durch den gesamten deutschsprachigen Raum und erreicht mit rund 250 Aufführungen jedes Jahr etwa 35.000 Menschen. Die selbstentwickelten Produktionen entstehen mithilfe von Expert*innen-Wissen und reflektieren aktuelle gesellschaftliche Themen und Fragestellungen. 

 

Die Aufführungen für Schulklassen der Altmark finden im Rahmen von »Denken ohne Geländer« statt und werden aus dem Landesprogramm »Demokratie, Vielfalt und Weltoffenheit« gefördert.

Jüdische Familiengeschicht(e)n

Bild-Vortrag und Buchpremiere in der Salzkirche Tangermünde

Dienstag 23. Januar 2024 / Salzkirche Tangermünde

Petra Hoffmann veröffentlicht zwei Bücher über die Familien Markus und Bernhard  
Petra Hoffmann bei ihren Recherchen im Tangermünder Stadtarchiv

Fotos: Elisa Jubert

Über viele Jahre hat die Tangermünderin Petra Hoffmann zu jüdischen Familien in ihrer Stadt geforscht. Nun präsentiert sie ihre Ergebnisse, die in ein Buchprojekt und in die Verlegung von Stolpersteinen münden. Bürgermeister Steffen Schilm lädt zu ihrem Bild-Vortrag am 23. Januar um 18 Uhr in die Tangermünder Salzkirche ein.

 

Zur stolzen Stadtgeschichte der Kaiser- und Hansestadt Tangermünde gehören auch jüdisches Leben, jüdische Nachbarn, eine jüdische Gemeinde und ein jüdischer Friedhof. Juden und Jüdinnen waren in Tangermünde angesehen und respektiert. Im Haus der ehemaligen Keramikwerkstatt in der Langen Straße 80, heute Drehort für die Filmserie »Mit Herz und Holly«, lebte einst der jüdische Händler Joseph Eichelgrün. Sein Vater kam 1820 nach Tangermünde. Sein Sohn betrieb das große Kaufhaus am Marktplatz. Nachfahren waren die Familie Markus. Berthold Markus war geachtetes Stadtratsmitglied. Erst als sein Sohn 1934 mit einem Strick um den Hals durch die Stadt getrieben wurde, erkannte er, dass es für seine Familie gefährlich war, in Tangermünde zu bleiben.

 

Diese Familiengeschichte und die Geschichte der Familie Bernhard hat Petra Hoffmann nun veröffentlicht. Die Publikationen werden bei ihrem Vortrag das erste Mal präsentiert. Petra Hoffman arbeitet seit 20 Jahren mit Kindern und Jugendlichen zur Stadtgeschichte von Tangermünde. Mit den »Jungen Stadtführern« forscht sie seit 2006 zum jüdischen Leben der Stadt. Durch konkrete Familiengeschichten macht sie jüdisches Leben greifbarer. Dazu hat Petra Hoffmann viele Zeitdokumente und Fotos gesammelt, auch mit aktueller Hilfe der Tangermünder. Auch sind neue Erkenntnisse zur jüdischen Gemeinde und ihrem Friedhof hinzugekommen. Petra Hoffmann informiert mit einem Bild-Vortrag über neue Ergebnisse, ihre Bücher zu den Familien Markus und Bernhard sowie die für sie geplanten Stolpersteinverlegungen. 

 

Die Veranstaltung findet im Rahmen von »Denken ohne Geländer« in Zusammenarbeit mit der Stadt Tangermünde statt. Die Projektwoche rund um den 27. Januar, den Tag der Befreiung von Auschwitz und den Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust, will in der Altmark mit verschiedenen Generationen ins Gespräch kommen. Bürgermeister Steffen Schilm wird die Gäste begrüßen. Der Eintritt in die Salzkirche ist frei.

DAS HAUS IN DER AUGUSTSTRASSE

Film & Gespräch mit Studierenden der Hochschule Magdeburg-Stendal

24. Januar 2024 / Hochschule Magdeburg-Stendal 

Die engagierte Heimleiterin Beate Berger.

Foto: BzpB (Bundeszentrale für politische Bildung), US Holocaust Museum

Studierende der Kindheitswissenschaften befassten sich mit dem Berliner Kinderheim »Beith Ahawah«. Mit einem Film und eigenen Erkundungen wollen sie Kinder-Geschichte zwischen Berlin, Stendal und Haifa erzählen.

 

Der Schriftzug »Ahawah« stand über der Tür des Heimes in der Auguststraße. Es heißt »Liebe«. Das Kinderheim arbeitete nach einem modernen sozialpädagogischem Konzept. Seit 1933 gerieten die jüdischen Kinder zunehmend in Lebensgefahr. Über 100 von ihnen konnte die Heimleiterin Beate Berger mit ihrem Team retten, indem sie ins Mandatsgebiet Palästina gebracht wurden. 

 

Beate Berger hatte Max Liebermann und Hermann Struck um Geld für den Aufbau eines neuen Heimes in Palästina gebeten. Die beiden renommierten Maler verkauften einige ihrer Bilder. Beate Berger nähte den Erlös von 30.000 Mark in ihre Kleidung ein und ging als Nonne verkleidet über Italien nach Haifa. In der Nähe von Haifa wurde das neue Ahawah-Heim aufgebaut. Beate Berger und ihr Netzwerk konnten weitere 200 Kinder aus anderen Europäischen Ländern nach Haifa retten. Im Pariser Exil gehörte Hannah Arendt zu den Fluchthelfern der damaligen Zeit.

 

In einem Dokumentar-Film erzählen ehemalige Heimkinder von ihrer Kindheit. Die Hintergründe wurden von Studierenden der Angewandten Kindheitswissenschaften der Hochschule Magdeburg-Stendal aufgearbeitet. Unter der Leitung von Prof. Katrin Reimer-Gordinskaya befassten sie sich in einem Seminar mit Kinderleben zwischen verschiedenen Lebenswirklichkeiten, der Geschichte des Kinderheimes und einzelnen Lebenswegen. 

 

Ihre Ergebnisse präsentieren sie nun der Stendaler Öffentlichkeit. Ihr Angebot richtet sich an alle interessierten Stadtbürger und an Fachkräfte, die mit Kindern ab 12 Jahren arbeiten. 

 

Die Veranstaltung findet im Rahmen von »Denken ohne Geländer« in der Stendaler Hochschule in der Osterburger Straße 25 in Haus 3 im Raum 2.04 statt. Der Eintritt ist frei.


SCHWARZ-ROT-KOSCHER

Heiter bis bissiges Kabarettprogramm mit Alexej Boris

24. Januar 2024 / Theater der Altmark, Kleines Haus

Schauspieler Alexej Boris lädt in Stendal zum Kabarett-Abend »Schwarz-Rot-Koscher« ein.

Foto: Boris & Konsorten

Zu einem leichtfüßigen Spiel mit Vorurteilen hat das Theater der Altmark den Schauspieler Alexej Boris nach Stendal eingeladen. Als Stand-Up-Comedian schlüpft er in verschiedene Rollen und bringt das Publikum zum Lachen und Nachdenken. 

 

Alexej Boris ist Deutscher, gebürtiger Russe und Jude. Aus seinen Lebenserfahrungen schöpft er seine Bühnenprogramme. Mit dem heiter-bissigen Kabarettprogramm »Schwarz-Rot-Koscher« erzählt er vom Alltag heute lebender Juden, den Fragen junger Migranten und dem Missverständnis »deutsche Leitkultur«. Seine Bühnenfiguren sind krass, aber auch liebevoll nachvollziehbar. 

 

Der Schauspieler sagt über sein Programm: »Wenn Ihnen beim Wort ›Jude‹ das deutsche Geschichtsbuch hochkommt, dann sind Sie hier richtig.« Alexej Boris hat Antworten auf alle Fragen: »Sind Vorurteile da, um bestätigt zu werden? Gehört den Juden die Weltwirtschaft? Dürfen Juden Schweinegrippe bekommen? Was ergibt die englische TIMES rückwärts gelesen? Und falls Sie es gerade ausprobiert haben: Durften Sie das?« Alexej Boris führt durch (s)eine deutsch-jüdisch-russische Parallelwelt voller einladender Fettnäpfchen und koscherer Snacks. »Und zum Nachtisch erklärt Ihnen Tante Marina mehr als Sie je wissen wollten. Fühlen Sie sich wie zuhause – wo auch immer das sein mag!« 

 

Alexej Boris geboren 1973 in Leningrad, machte schon mit 16 sein Abitur. Anschließend besuchte er die Leningrader Hochschule für Film und Theater. Er verließ die Sowjetunion kurz vor ihrem Zusammenbruch und ging nach Deutschland. In Stuttgart besuchte er die Schauspielschule von Frieder Nögge und arbeitete anschließend an verschiedenen Bühnen. 2003 gründete er das Ensemble Boris & Konsorten. Seine Bühnenprogramme und seine Demokratieprojekte unterhalten, provozieren und rütteln auf. 

 

In Stendal will Alexej Boris am 24. Januar um 19.30 Uhr im Kleinen Haus des Theaters der Altmark mit dem Publikum ins Gespräch kommen. Der Eintritt ist frei. Um Reservierung an der Theaterkasse oder unter 03931 – 63 57 77 wird gebeten.

Geschichte hautnah mit Holocaust-Überlebender

Zeitzeugin Henriette Kretz zu Gast bei Stendaler Gedenkveranstaltung für die NS-Opfer

27. Januar 2024 / Katharinenkirche Stendal

Henriette Kretz wurde von Oberbürgermeister Bastian Sieler begrüßt und wendete sich immer wieder an die Kinder im Saal der Kathrinenkirche (am, mh, eg)

Bis auf den letzten Platz gefüllt war die Stendaler Katharinenkirche am 27. Januar 2024 zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus. Die Landeszentrale für politische Bildung Sachsen-Anhalt, das Maximilian-Kolbe-Werk und die Hansestadt Stendal hatten dazu im Rahmen von »Denken ohne Geländer« die Zeitzeugin Henriette Kretz aus Antwerpen eingeladen. Als Jüdin in Polen geboren, überlebte sie den Holocaust in verschiedenen Verstecken. 

 

Henriette Kretz wird in diesem Jahr 90 Jahre alt. Sie gehört, so Stephanie Roth vom Maximilian-Kolbe-Werk in ihrer Anmoderation, zu den aktivsten Zeitzeuginnen. Seit 20 Jahren erzählt sie in Deutschland immer wieder ihre Geschichte und kommt mit den Menschen ins Gespräch darüber, vor allem mit jungen Menschen. In Magdeburg und Stendal war sie vor der Gedenkveranstaltung eine Woche lang in Schulen unterwegs. Henriette Kretz setzt Vertrauen in die junge Generation. »Ich habe schon viele junge Leute gesehen, ich weiß, dass sie sich nicht verführen lassen«, sagt sie in der Katharinenkirche. Immer wieder geht ihr Blick zu einer Gruppe Jugendlicher, die direkt vor der Bühne auf dem Boden sitzen, während sie im Interview mit Stephanie Roth aus ihrem Leben berichtet.

 

Jähes Ende einer glücklichen Kindheit

 

Die kleine, zarte Frau mit der gutmütigen Ausstrahlung spricht über ihre behütete Kindheit im polnischen Iwaniska, von der Liebe ihrer Eltern, von ihrem Hund und ihren Freunden. Eine Kindheit, die 1939 mit dem Überfall der Deutschen auf Polen jäh endet. Henriette ist vier Jahre alt. Was eine Jüdin ist, weiß sie damals nicht. Sie erzählt von der Flucht nach Lemberg und vom Leben in Sambór, wo der Krieg die Familie wieder einholt, vom Zwangsumzug ins jüdische Viertel, das kurze Zeit später zum Ghetto wird. Sie schildert, wie sie als einziges Kind in einem Frauengefängnis eingesperrt wird, wie die Wärter ein Neugeborenes in die Zelle werfen, wie sie betet, »Gott, wenn du mich rauslässt, nehme ich das Baby mit«.

 

Beziehungen ihres Vaters, der sich als Arzt Respekt erworben hatte, und Bestechung retten die Familie mehrfach vor dem Tod. Henriette Kretz nimmt ihre Zuhörer gedanklich mit in einen winzigen Kohlenkeller ohne Fenster, in dem Vater, Mutter und Kind nur sitzen oder liegen können. Ein ukrainischer Feuerwehrmann und seine Frau verstecken sie dort und später auf ihrem Dachboden, doch deutsche Soldaten entdecken Henriette und ihre Eltern. Als sie abgeführt werden, bleibt der verzweifelte Vater stehen, wirft sich auf einen Soldaten und ruft seinem Kind zu: „Lauf!“ Und Henriette läuft los, hört im Fliehen die Schüsse auf den Vater, die Schreie der Mutter, wieder Schüsse – und weiß, dass sie keine Eltern mehr hat. Unterschlupf findet sie im Waisenhaus von Sambór. Die Schwestern verstecken dort während des Krieges elf jüdische und drei Kinder von Sinti und Roma zwischen den ukrainischen und polnischen Waisen.

 

»Es ist schön zu leben«

 

In der Katharinenkirche ist es sehr still, während Henriette Kretz spricht. Direkt an die jungen Leute vor der Bühne gewandt sagt sie: »Das war keine besondere Geschichte, das war das Schicksal aller jüdischen und Sinti- und Roma-Kinder, sie waren alle zum Tode verurteilt.« Als das Publikum zu Fragen an die Zeitzeugin eingeladen wird, möchte eine Besucherin wissen, wie man es schafft, mit so einem Schicksal umzugehen. »Man ist zufrieden, dass man am Leben ist. Sehr viele Menschen mussten sterben im Krieg. Es ist schön zu leben und das muss man würdigen. Ich habe nichts dagegen, noch 100 Jahre alt zu werden«, antwortet Henriette Kretz und lächelt dabei. Sie berührt nicht nur mit der Erzählung aus ihrer Vergangenheit, sondern auch mit ihrer menschenfreundlichen Präsenz in der Gegenwart. 

 

Kaum ist der letzte Ton der Musik verklungen, mit der Pianistin Haesung Bahr die Veranstaltung einfühlsam begleitet hat, und die letzte Blume überreicht, steigt Henriette Kretz von der Bühne und geht zu den Jugendlichen. Eine junge Frau lässt sich von ihr das Buch »Eine Kindheit im Schatten der Schoah« signieren, in dem Henriette Kretz ihre Erinnerungen aufgeschrieben hat. Weitere Besucher kommen auf sie zu, danken ihr, berühren sie, wünschen ihr alles Gute – und das sie die 100 Jahre schaffen möge.

 

Wahre Auseinandersetzung mit der Geschichte notwendig

 

Die Begegnung mit Henriette Kretz bestätigte, was Stendals Oberbürgermeister Bastian Sieler in seinen Begrüßungsworten gesagt hatte: »Ein Gespräch mit einer Zeitzeugin, ein Bericht aus erster Hand, berührt und bewegt noch einmal ganz anders als das, was wir in einem Geschichtsbuch lesen.« Der Holocaust dürfe kein abstraktes Thema aus dem Geschichtsunterricht sein, sondern es müsse eine wahre Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte stattfinden. Das Maximilian-Kolbe-Werk und die Landeszentrale für politische Bildung Sachsen-Anhalt tragen mit ihrer Arbeit einen wichtigen Teil dazu bei. »Der Bericht von Zeitzeugen gehört zum Kern einer Erinnerungskultur, die darauf ausgerichtet ist, die Verbrechen des Nationalsozialismus auch im Bewusstsein kommender Generationen zu halten«, sagt Landeszentrale-Direktor Maik Reichel bei der Gedenkveranstaltung in Stendal. Die Beschäftigung mit der Geschichte sei kein Selbstzweck, sondern notwendige Erinnerung mit Blick auf die Gegenwart und Zukunft, um zu lernen, wohin wir gesellschaftlich gehen wollen. Maik Reichel dankte Henriette Kretz für die Kraft, mit der sie immer wieder ins Gespräch geht: »Viele haben es nicht verkraftet und konnten auch in ihren Familien nicht darüber sprechen.«

 

Bericht: Edda Gerhmann

 

Hinweis

 

Zur Gedenkveranstaltung eingeladen waren zwei Zeitzeuginnen. Alodia Witaszek-Napierała, geboren 1938 in Polen, musste leider aus gesundheitlichen Gründen absagen. Nach Konzentrationslager und »Lebensborn-Heim« wurde sie im April 1944 als »Geschenk des Führers« einer deutschen Familie zur Adoption übergeben. Von nun an hieß sie Alice Luise Dahl und wohnte in Stendal. Erst 1947 kehrte sie in ihre polnische Heimat zurück. Stephanie Roth vom Maximilian-Kolbe-Werk hofft, das Gespräch mit Alodia Witaszek-Napierała in Stendal im Laufe des Jahres nachholen zu können. 

Lesetipps

 

Henriette Kretz: »Willst du meine Mutter sein? Eine Kindheit im Schatten der Schoah«,

Druckerei und Verlag Hille, ISBN 978-3-939025-38-2

Reiner Engelmann: »Alodia, du bist jetzt Alice!« Kinderraub und Zwangsadoption im Nationalsozialismus. cbj Jugendbücher ISBN 978-3-570-31268-1

(auch erschienen in der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung: »Alodia, du bist jetzt Alice!« | bpb.de)

Premiere von »Das große Heft«

von Ágota Kristóf aus dem Französischen von Eva Moldenhauer

Regie und Bühnenfassung: Johanna Schall 

27. Januar 2024 / Theater der Altmark

Johanna Schall inszeniert am Theater der Altmark
Foto: Nilz Böhme

Die Hoffnung ist, neben natürlich Glück, das Wichtigste, um einen Krieg zu überleben. Aber Hoffnung bedeutet nicht die naive Gewissheit, dass bessere Zeiten kommen werden. In ihrem Roman »Das große Heft« zeigt die Autorin Ágota Kristóf, dass Hoffnung auch bedeuten kann, sich aller Sentimentalität zu entkleiden, die Dinge zu nehmen, wie sie sind und dennoch menschlich zu bleiben. Ein Junges Zwillingspaar wird zur Großmutter aufs Land geschickt, als in der großen Stadt die Bomben fallen. Gerade noch gutbürgerliche Annehmlichkeiten gewöhnt, landen sie buchstäblich in der Scheiße. Die Großmutter schickt sie zur Arbeit aufs Feld, nennt sie Hundesöhne, es gibt Schläge und kaum Nahrung. Aber die Zwillinge arrangieren sich schnell. Alle Grausamkeit, die die neue Umgebung ihnen antun könnte, tun sie sich gegenseitig an – in aller Liebe und Fürsorge. Ihre Übungen machen, nennen sie das. Kristóf gelingt es ihre Erzählung in einem lakonischen Grundton zu halten, der viel Raum lässt für das Absurde und Komische dieser menschlichen Katastrophe. Am Ende, als der Krieg vorbei ist, haben die Zwillinge einen engelsgleichen Zustand erreicht, in dem Güte und Grausamkeit manchmal schwer zu unterscheiden sind. »Das große Heft« ist kein Roman über einen Krieg, sondern über Kriege im Allgemeinen, über die Menschheit im Ausnahmezustand und all das Schlechte, das Gute, das Schöne, das wunderbare und das grotesk komische zu dem sie in der Lage ist. Die Regisseurin Johanne Schall bringt den Roman im TdA auf die Bühne. Ein zehnköpfiges Ensemble und der Gastmusiker Elias Weber stehen ihr dabei zur Seite. 

 

Im Anschluss an die Premiere sind alle herzlich eingeladen zum Premierenausklang im Theatercafé. 

NACHWIRKUNGEN

Rundgang Außengelände und Besuch der Ausstellung im Dokumentationszentrum

28. Januar 2024 / Gedenkstätte Feldscheune Isenschnibbe Gardelegen

Im letzten Jahr kamen viele Menschen bei der Führung miteinander ins Gespräch (am)

Die Gedenkstätte Feldscheune Isenschnibbe Gardelegen lädt anlässlich des internationalen Holocaust-Gedenkens am Sonntag 28. Januar um 11 Uhr zu einer Sonderführung ein. Es geht um die Ermordung von KZ-Häftlingen und um die über Jahrzehnte veränderte Gedenkkultur.

 

Unter Beteiligung von Angehörigen der Wehrmacht, des Reichsarbeitsdienstes, des Volkssturms und weiterer NS-Organisationen wurden am 13. April 1945 in einer Feldscheune in Isenschnibbe bei Gardelegen 1016 KZ-Häftlinge grausam ermordet. 305 Opfer des Massakers konnten identifiziert werden. Die übrigen wurden mit der Aufschrift »Unbekannt« auf dem Ehrenfriedhof beigesetzt.

 

Im Umgang mit dem Verbrechen spiegelt sich die Gedenkpolitik der DDR, deren Spuren ebenfalls sichtbar sind. Die Mitarbeitenden der Gedenkstätte laden von 11 bis ca. 12.30 Uhr ein zu einer begleiteten Besichtigung des Außengeländes und der Dauerausstellung »Gardelegen 1945. Das Massaker und seine Nachwirkungen«. 

 

Der Ort steht heute exemplarisch für die Geschichte der Todesmärsche und der nationalsozialistischen Endphaseverbrechen in den letzten beiden Kriegsjahren 1944/45. Auf dem Gelände entstand ein modernes Besucher- und Dokumentationszentrum mit einer Dauerausstellung, Seminarräumen, Veranstaltungen und Bildungsangeboten für Jugendliche und Erwachsene.

 

Im Anschluss an die Führung ist das Dokumentationszentrum von 13 bis 17 Uhr für das individuelle Besuchspublikum und für Gruppen geöffnet. Die Führung findet im Rahmen von »Denken ohne Geländer« statt. Der Eintritt ist frei. 

Mit der Geschichtswerkstatt auf den Spuren der Täter

Fahrradtour durch Stendal mit der Geschichtswerkstatt, ca. 2 Stunden

28. Januar 2024 / Treffpunkt Uenglinger Tor Stendal

Jacob Beuchel und die Stendaler Geschichtswerstatt führen zu den Täterorten.

Foto: Georg Laukert

Zu Orten des Unrechts in Stendal während des Nationalsozialismus führt am Sonntag, 28. Januar, eine Fahrradtour mit der Geschichtswerkstatt. Treffpunkt ist um 14.00 Uhr am Uenglinger Tor. Die Route beinhaltet u.a. das ehemalige Kasernengelände an der Scharnhorststraße (Justizzentrum »Albrecht der Bär«) als Standort der Wehrmacht nach der Machtübernahme 1933, den Stadtsee als Propagandaobjekt in der NS-Zeit, »arisierte« Wohn- und Geschäftshäuser jüdischer Menschen in der Frommhagenstraße und den Platz am Ostwall, wo in der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 die Synagoge in Flammen stand. Auch der Marktplatz, wo die NSDAP an der Ecke Brüderstraße (heute Stadthaus 2) ihre Machtzentrale hatte und der Hauptbahnhof als Ort der Verschleppung jüdischer Menschen gehören zu den Stationen. Vor dem RAW-Gebäude am Nachtigalplatz wird Zwangsarbeit thematisiert.

Jacob Beuchel von der Geschichtswerkstatt vermittelt während der Tour zahlreiche Informationen zu diesem Teil der städtischen Geschichte. Auch in Stendal gelang die systematische Entrechtung, Ausgrenzung und Ermordung von Juden und Jüdinnen sowie anderer Opfer des NS-Systems durch die tatkräftige Mithilfe von Nachbarn, Sicherheitsbehörden und die kommunale Verwaltung. Die Geschichtswerkstatt widmet sich den Schicksalen jüdischer Menschen in Stendal und verfolgt die Spuren der Täter. Die Fahrradtour im Rahmen der Aktionswoche »Denken ohne Geländer« dauert etwa zwei Stunden. An wetterfeste und warme Kleidung denken!


Mit mehr historischer Präzision an die Vergangenheit erinnern

Historiker Per Leo las in Stendal aus seinem Roman »Flut und Boden«

29. Januar 2024 / Cordatussaal am Stendaler Dom St. Nikolaus  

Per Leo und Dorothea Knauerhase kamen nach der Lesung mit dem Publikum im Cordatussaal ins Gespräch (eg)

Als vorerst letzte Veranstaltung der Reihe »Denken ohne Geländer« 2024 kündigten Dorothea Knauerhase und Pfarrer Markus Schütte am Abend des 29. Januar im Cordatussaal des Stendaler Domes eine Lesung mit Per Leo an. Die Initiative »Herz statt Hetze« und die evangelische Stadtgemeinde hatten den Historiker mit seinem Roman »Flut und Boden« nach Stendal eingeladen. Darin verarbeitet Per Leo einen Teil seiner Familiengeschichte literarisch. 

 

Im Zentrum stehen die Brüder Friedrich und Martin Leo, die Anfang des 20. Jahrhunderts in Bremen in eine großbürgerliche Familie hineingeboren werden. Friedrich Leo ist der Großvater des Autors und war während der Nazi-Zeit ein exponierter Bürokrat im Rasse- und Siedlungshauptamt der SS. Für Martin Leo wurde 1938 von den Nazis die Sterilisierung angeordnet. »Man ist einfach nicht bereit, den Morbus Bechterew noch länger im Volkskörper zu dulden«, schreibt Per Leo.

 

Aufräumen der großväterlichen Bibliothek wird zur Urszene

 

Der Roman beginnt Mitte der 1990er-Jahre, der Großvater lebt seit zwei Jahren nicht mehr. Per Leo sortiert dessen Bücher aus und interessiert sich besonders für die Sammlung von Klassikern der nationalsozialistischen Weltanschauung, die im Regal hinter einem Vorhang verborgen werden. Er beginnt die Lesung in Stendal mit der Beschreibung dieser Situation, die er später im Gespräch als Urszene bezeichnet. Das Aufräumen der großväterlichen Bibliothek führte sowohl zu Per Leos Dissertation »Der Wille zum Wesen. Weltanschauungskultur, charakterologisches Denken und Judenfeindschaft 1890–1940“ als auch zu seinem ersten Roman „Flut und Boden«. 

 

Während er in der wissenschaftlichen Schrift jenseits seiner persönlichen Emotionen als Historiker den Zusammenhang zwischen deutscher Weltanschauungskultur und Nationalsozialismus betrachtet, darf er im Roman mit seiner persönlichen Betroffenheit aus der Ich-Perspektive erzählen. »Da komme ich also her«, konstatiert er an einer Stelle des Buches und nennt sich Nazienkel. Die Zeitebenen des Romans, so verdeutlicht Leo mit der Auswahl der gelesenen Stellen, führen aber auch zurück bis ins 19. Jahrhundert und in die jüngere Geschichte der 1990er-Jahre mit Gedanken zur deutschen Teilung.

 

SS war stark in der Bildungsschicht verankert

 

Zehn Jahre ist »Flut und Boden« schon auf dem Markt – und noch immer wird der Autor damit zu Lesungen eingeladen. »Insbesondere um den 27. Januar herum«, sagt er, den Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. Ein Teil des Nachgespräches mit Dorothea Knauerhase und dem Publikum dreht sich dann auch um die Gedenk- und Erinnerungskultur. Per Leo wirbt dafür, sich mit etwas mehr historischer Präzision der Vergangenheit zu erinnern. »Wir sind gewohnt, uns die Nazis sehr abstrakt als eine Gruppe von Bösewichten vorzustellen. Das tödliche, genozidale, hatte einen ganz anderen Zuschnitt und war vor allem im Bürgertum verankert«, gibt er zu bedenken. Die SS sei von ihrem Selbstverständnis her viel stärker in der Bildungsschicht verhaftet gewesen, das sei viel zu wenig bekannt. 

 

Wissen über die NS-Zeit nimmt ab

 

Erinnerungskultur hält Per Leo immer dann für gelungen, wenn sie konkret wird, wenn sie Opfer- und Tätergeschichte zusammenbringt. Eine Veranstaltungsbesucherin steuerte ein Beispiel bei, das ihr negativ auffiel: Millionen stehen an am Anne-Frank-Haus in Amsterdam, aber in der KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen, wo sie gestorben ist, sei kaum jemand. Per Leo griff das Beispiel Anne Frank auf. Ihr Tagebuch zu lesen und über die Identifikation zum Thema zu kommen, sei ein guter Einstieg, aber es dürfe nicht dabei bleiben. Die hässliche Seite der Geschichte auszublenden, sich nicht mit den Taten und den Tätern zu beschäftigen, diene nur der eigenen Entlastung, nicht der Auseinandersetzung. Der Historiker macht sich keine Illusionen darüber, dass das Wissen über die Vergangenheit immer abstrakter und formelhafter werde, je weit sie sich von der Gegenwart entfernt. Heutige Gymnasiasten wüssten erschreckend wenig über die NS-Zeit. 

 

Neben einer differenzierten Auseinandersetzung plädiert er dafür, sich im heutigen Handeln nicht nur an der Vergangenheit zu orientieren. »Hätten wir ohne die Geschichte keinen Grund, uns gegen die AfD aufzustellen?« fragt Per Leo und gibt weiteren Stoff zum Nachdenken mit: »Wir sollten uns nicht so sehr fragen: Wogegen bin ich? Welche Geschichte wiederholt sich da gerade? Sondern: Wofür bin ich? In welcher Gesellschaft wollen wir leben?«

 

Bericht: Edda Gehrmann