Hachschara Havelberg: Jüdische Gemeinschaft und Hoffnung auf ein Leben in Palästina

Studentisches Projekt und Exkursion mit Museumsleiterin Antje Reichel, Bericht und Fotos: Edda Gehrmann

Ein Neuanfang in Palästina – das war die Hoffnung der jungen Jüdinnen und Juden, die von 1934 bis 1941 in einem Waldgehöft bei Havelberg ausgebildet wurden. Die 15- bis 18-jährigen lebten dort wie im Kibbuz und erlernten alles, was sie für ihr späteres Leben in der Gemeinschaft brauchen würden. Mit Abenteuerlust oder Selbstverwirklichung hatten ihre Auswanderungspläne nichts zu tun. Diese jungen Menschen versuchten, dem nationalsozialistischen Terror zu entkommen. »Denken ohne Geländer« bot den Rahmen für ein studentisches Projekt der Hochschule Magdeburg-Stendal und eine Exkursion zur ehemaligen Havelberger Ausbildungsstätte.

 

»Ich musste nie Angst um mein Leben haben und alles zurücklassen. Es ist wichtig, sich das einmal ins Gedächtnis zu rufen«, sagt Jenny Heine. Dieses Privileg wurde der Studentin während ihrer Recherchen zur Hachschara im Seminar »Jüdisches Kinderleben – Denken ohne Geländer« bewusst. Das hebräische Wort Hachschara bedeutet wörtlich übersetzt Tauglichmachung. Ziel der Bewegung war es, junge Jüdinnen und Juden auf ein kollektives Leben und Arbeiten im Kibbuz in Palästina vorzubereiten. Das schloss landwirtschaftliche, handwerkliche und hauswirtschaftliche Ausbildung ebenso ein wie das Erlernen der modernen hebräischen Sprache, die Pflege jüdisch-religiöser Rituale und ein organisiertes Gemeinschaftsleben. 

 

Gemeinsam mit vier Kommilitoninnen erforschte Jenny Heine die Geschichte dieser Ausbildungsstätten von der Gründung des zionistischen Weltverbandes Hechaluz (Der Pionier) 1917 über den massenhaften Zulauf ab 1933 in Deutschland bis zum Verbot und der Auflösung der Lehrstätten 1941 durch die Nationalsozialisten. In einem interaktiven Plakat mit QR-Codes macht die Projektgruppe ihr erworbenes Wissen auch für andere nutzbar. Historische Fakten, Zeitdokumente und Lebensgeschichten, die von den Studentinnen vorgelesen werden, fügen sich zu einem komplexen Bild dieses wenig bekannten Teils deutsch-jüdischer Geschichte zusammen. 

 

Großes Interesse an Exkursion zur ehemaligen Hachschara-Stätte

 

Eines der Plakate ergänzt nun die Ausstellung zum jüdischen Leben im Prignitz-Museum am Dom Havelberg. Jenny Heine nutzte die Denken-ohne-Geländer-Exkursion zum früheren Havelberger Hachschara-Lager, um dem Museum ein Exemplar zu übergeben. Dessen Leiterin Antje Reichel erforscht seit Jahren diesen Teil der Regionalgeschichte und hat die Studentinnen bei ihrer Arbeit unterstützt. »Die Informationen über die Geschichte des Lagers sind nur sehr dünn gesät«, sagt sie. Dennoch gelingt es ihr während ihrer Führungen, das Leben der Menschen dort greifbar zu machen. Am 25. Januar 2022 begibt sich trotz ungemütlichsten Wetters eine große Gruppe von 30 Interessierten mit der Museumsleiterin auf den Weg zum Waldgehöft. 

 

Auf dem Gelände einer ehemaligen Jagdpacht drei Kilometer nordöstlich der Prignitz-Stadt suchten ab 1934 junge Jüdinnen und Juden ihre Chance zur Auswanderung. »Die Praktikanten kamen aus Berlin und dem gesamten Reichsgebiet. Jeder, der nach Havelberg kam, um hier für mindestens ein Jahr den Beruf des Landwirtes oder ein Handwerk zu erlernen, wollte eines der begehrten Einreisezertifikate der englischen Regierung für Palästina erhalten«, erklärt Antje Reichel. Der jüdische Rechtsanwalt Siegfried Freund stellte sein Gehöft dafür zur Verfügung. Es umfasste acht Hektar Land, eine kleine Villa, zwei Wohnhäuser, eine Werkstatt, einen Stall, Gewächshäuser und Schuppen und bot 50 Ausbildungsplätze.

 

Wichtige Quelle: Berichte und Fotos ehemaliger Praktikanten 

 

Der Wald hat sich einen Teil des Geländes, auf dem damals Felder bewirtschaftet wurden, inzwischen zurückgeholt. Ansonsten ist das Ensemble nahezu unverändert und trägt noch viele Spuren seiner jugendlichen Bewohnerinnen und Bewohner aus den 1930er-Jahren. Antje Reichel machte unter anderem auf Gewächshäuser und auf Bewässerungskanäle aufmerksam. Um das Wasser auf Felder und Beete zu pumpen, kam ein eigenes Windrad zum Einsatz. Angebaut wurden u. a. Kartoffeln, Rüben, Bohnen, Zwiebeln, Möhren, Kohl, Tomaten, Rosenkohl und Kohlrabi. Aber auch Futter-Mangold und Futtermöhren, um die Tiere zu versorgen: Pferde, Hühner, Gänse, Enten. Überliefert sind solche Details aus der akribischen Inventar-Aufnahme der Nationalsozialisten bei der Auflösung des Landwerkes 1941. Bis auf den Kürbis für 50 Pfennig genau wurde über Verwertbares Buch geführt. 

 

Zu den wichtigsten Quellen über das Leben im Havelberger Kibbuz zählen die Berichte ehemaliger Praktikanten. Einer von ihnen, Fred Oberländer, besuchte sein ehemaliges Lager 1999. Ein besonderer Glücksfall sind die Fotos, die Oberländer über die Zeit retten konnte. »Er war erstaunt, wie gut das Grundstück erhalten ist. Den Ort Havelberg kannte er überhaupt nicht, da die Praktikanten wegen der zunehmenden Judenfeindlichkeit die Stadt nur ausnahmsweise besuchten«, berichtet Antje Reichel. 

 

Fred Oberländer absolvierte seine Ausbildung 1939. Ein Jahr zuvor war das Gelände in der Pogromnacht am 9. November 1938 verwüstet worden, die Jugendlichen wurden im Polizeigefängnis eingesperrt. »Die Frau unseres Leiters war auf der Farm geblieben und stand vor der Entbindung. Das Kind blieb im Bauch, sie hat furchtbar gelitten und ist daran gestorben«, hielt die Zeitzeugin Annette Eick fest. Johanna Horn, so hieß sie, ist auf dem jüdischen Friedhof unweit vom Waldgehöft begraben. Ihr Mann, der letzte Madrich (Leiter) in Havelberg und ihr Sohn starben später im Konzentrationslager.

 

Immer mehr bürokratische Hürden für die Ausreise 

 

Antje Reichel sorgt dafür, dass die Schicksale der Menschen, die damals auf dem Waldgehöft lebten, lernten, arbeiteten, liebten, hofften und litten nicht vergessen werden. Während ihrer Führung holt sie immer wieder Fotografien und Dokumente aus einer dicken Mappe hervor, zitiert und erzählt Details, die zu Bildern im Kopf werden. So war z. B. Mädchen bei der Ausreise nur ein Schmuckstück gestattet. Auf Fred Oberländers »Umzugsgutverzeichnis« steht hauptsächlich Kleidung, ein bisschen Schreibzeug, ein Taschenmesser. »Man kann fast sagen, sie sind mit Handgepäck ausgereist in der Hoffnung, in Palästina ein neues Leben zu beginnen«, sagt Antje Reichel. 

 

Ein Umzugsgutverzeichnis musste jedes Kleidungs- und Gepäckstück auflisten und mit einem Antrag auf Mitnahme von Umzugsgut bei der Oberfinanzdirektion zur Genehmigung eingereicht werden. Das waren jedoch nicht die einzigen bürokratischen Hürden, die sich auftürmten. Hinzu kamen u.a. eine »Unbedenklichkeitsbescheinigung« von der Stadtverwaltung und eine Erklärung über die Schuldenfreiheit von den Finanzämtern der jüdischen Heimatgemeinden. »Je länger der Krieg dauerte, desto schwieriger wurde es, das Land zu verlassen«, sagt Antje Reichel. 

 

Die letzten 19 Jugendlichen wurden Opfer des Holocaust

 

Wurden die Hachscharot (Plural von Hachschara) in den ersten Jahren der Naziherrschaft noch geduldet, weil sie auf die Ausreise der Jüdinnen und Juden zielten, führten die Nationalsozialisten in den 1940er-Jahren einen grausamen Vernichtungskrieg gegen die gesamte jüdische Bevölkerung Europas. Bis 1945 wurden über sechs Millionen Jüdinnen und Juden ermordet. 

 

Wie viele Jugendliche in Havelberg eine Ausbildung bekamen und wie vielen von dort aus die Ausreise nach Palästina gelang, darüber gibt es keine Aufzeichnungen. Bekannt ist dagegen, dass die letzten 19 Jugendlichen, die dort im Sommer 1941 noch auf ihre Auswanderung hofften, Opfer des Holocaust wurden. Ihre Namen stehen im Gedenkbuch des Bundesarchivs für die Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933 – 1945.

 

Seit 2019 erinnert eine Tafel in der Nähe des Waldgehöftes an den Hachschara-Kibbuz Havelberg, der am 31. Juli 1941 aufgelöst wurde. Das Gelände eignete sich das Reichspropagandaministerium an. Heute gehört das Grundstück drei Familien. Sie bewahren das Erbe, gestatten Führungen und empfangen gelegentlich interessierte Gäste.


Weiterführende Informationen:

 

Ulrike Pilarczyk, »Gemeinschaft in Bildern - Jüdische Jugendbewegung und zionistische Erziehungspraxis in Deutschland und Palästina/Israel«, © Wallstein Verlag, Göttingen 2009

 

Ruth und Herbert Fiedler, Hachschara. Vorbereitung auf Palästina. Schicksalswege, Herausgegeben von der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum, Verlag Hentrich & Hentrich

 

www.jewiki.net: Hachschara – Jewiki